Dialektik und Change-Prozesse

Gespeichert von andre am Do., 15.03.2007 - 12:26
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Ich denke, die von den marxisten entwickelten Gesetze der objektiven bzw. sog. materialistischen Dialektik, sind auch heute in der fast nur noch ausschließlich kapitalistischen Welt vom praktischen Nutzen in dem Sinne, als dass sie sehr vieles (mindestens im nachhinein) erklären und sich teilweise (z.B. bei Prozessen des organisational change) auch praktisch in der tägl. Arbeit eines Managers einsetzen lassen (hier übernommen aus [1]):

  1. Gesetz von der Einheit und dem "Kampf" der Gegensätzlichkeiten.
    "Die Triebkraft jeder Bewegung und Entwicklung sind die den Dingen innewohnenden dialektischen Widersprüche."
  2. Gesetz vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative und umgekehrt
    "Die Einheit von Quantität und Qualität, von Evolution und Revolution, von Kontinuität und Diskontinuität"
  3. Gesetz der Negation von Negation
    Jede Entwicklung ist "eine Höherentwicklung", "keine einfache Vernichtung des Alten, ein Prozess dialektischer Negationen, in denen frühere Stadien überwunden, aber gleichzeitig ihre positiven und weiterentwicklungsfähigen Seiten erhalten bleiben."

Hier ist es wichtig sich von der Erinnerung bzw. von der absichtlichen sozialen Kategorisierung und Abstempelung der oben genanngen Prinzipien als falsch, weil kommunistisch, komplett zu verabschieden. Meiner Meinung nach, erklären sie z.B. auch sehr gut den Zerfall der Sovietunion und den Zusammenbruch des Ostblocks.

Warum sind die oben genannten Gesetzmäßigkeiten auf Unternehmen und Organisationen anwendbar? Schauen wir uns die wissenschaftliche Definition einer Organisation an. "Organisationen sind soziale Gebilde, die dauerhaft ein übergeordnetes Ziel verfolgen und eine formale Struktur aufweisen, mit deren Hilfe die Aktivitäten der Mitglieder auf das verfolgte Ziel ausgerichtet werden sollen" (siehe auch [3]), mit deren Hilfe die individuellen Zielvorstellungen der Organisationsmitglieder mit der übergeordneten Zielvorgabe der Organisation selbst in Einklang gebracht werden sollen. Schon aus dem letztem Teilsatz der hier aufgeführten Definition ist die Relevanz der ersten dialektischen Gesetzmäßigkeit offensichtlich: die individuellen Ziele der Organisationsmitglieder und das übergeordnete Ziel der Organisation bilden hier eine untrennbare Einheit, welche die (eigentlich) kompletten Gegensetzlichkeiten der beiden Zielrichtungen vereint. Auch das Gesetz vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative und umgekehrt kann in fast allen Organisationen beobachtet werden: Produktivitätsdruck führt zur Spezialisierung, Große der Organisation führt zu Einführung von Führungsebenen, Erhöhung der Anzahl der Organisationsmitglieder führt zunächst zur Erhöhung der Leitungsspannen und damit mittelbar auch zur Veränderung der Hierarchien. Bei weiterem Steigen der Organisationsgröße werden andere Formen der Koordination erforderlich (Stichwort Profit- und Investment-Center). Auch das Gesetz von Negation von Negation ist in dem Sinne immer präsent, als dass bei Prozessen des Organizational Change fast immer versucht wird die guten Eigenschaften der alten Organisationsstruktur mit in die erforderliche neue Form zu Integriefen (z.B. wird häufig versucht mindestens die guten Seiten der Unternehmenskultur zu erhalten bzw. stabil zu halten).

Welche Praktische Bedeutung haben nun die oben geschilderten Gesetzmäßgkeiten? Mann benötigt sie um zu verstehen, wann eine Veränderung heranreift, notwendig wird, wann sie in gang kommt, wann die Veränderung zum Stillstand kommt und welche Aspekte (z.B. Zielkonflikte, das Gute vom Alten bewahren) dabei wichtig sind.

Nun zum nächsten Punkt: "Gibt es irgendwelche Indikationen, welche den (möglicherweise schlagartigen) Übergang quantitativer Veränderungen in qualitative anzeigen?". Einen sehr generischen Ansatz für große Veränderungen hat seinerzeit Lenin in 1905 (bitte nicht schlagen!) mit seinen Merkmalen einer revolutionären Situation formuliert (vergleiche auch [2]):

  1. Krise der Oberen
    Die Unfähihkeit der Oberen, ihre Dominanz in unveränderter Form fort zu führen.
  2. Krise der Unteren
    Erosion der Gerechtigkeit aus dem Blickwinkel der Unteren, welche sich z.B. in unfairer Machtverteilung, unfairer Verteilung von Gerechtigkeit und ungerechter Verteilung des Wohlstands manifestieren kann.
  3. Erhöhung der politischen Aktivität der Massen
    Politisierung, Organisation oder schlichte Parteiergreifung der Massen, wenn ein geeigneter Meinungsführer zur Verfügung steht.

Nun stellt sich die Frage: "Welche generische Strategien gibt es um den (Phasen-)Übergang von quantitativen Veränderung und qualitative und/oder umgekehrt zu meistern?". Eine tatsächlich vorliegende revolutionäre Situation, wo alle drei oben genannten Merkmale deutlich ausgeprägt sind und signifikant im Sinne von deutlich messbar, erkennbar sind, kann folgende logische Entwicklungen nehmen:

  1. Konterrevolution
    Die Oberen ziehen die Zügel so stark an, dass jede Bewegung unterdrückt wird. Die Möglichkeit für jeglichen Kompromis (siehe nächsten Punkt) wird entzogen (bitte nicht mit "Basis für Kompomis entziehen" verwechseln), die Möglichkeit einer Reform wird verneint bzw. die Reform wird unenkbar gemacht.
  2. Kompromiss
    Die Oberen sind bereit Macht zu teilen bzw. beteiligen die Unteren an der Macht.
  3. Reform
    Die Oberen opfern ein Teil ihrer Privilegien um die wichtigen Dinge zu behalten und mindestens die Macht zu erhalten.
  4. Revolution
    Die vollständige Vernichtung der (alten!) Oberen.

Was bedeutet dies nun z.B. für die oben erwähnten Prozesse des sog. organisational change oder generell für Organisationsentwicklung? Ich denke, dass es wichtig ist, eine revolutionäre Situation wegen der schlichten Gefahr einer unumkehrbaren (Selbst-)Zerstörung zu vermeiden und entweder die Macht zu behalten, die betroffenen nicht in die Ecke zu treiben und die Eskalation von Konflikten zu stoppen (Stichwort Politisierung). Wenn dennoch eine revolutionäre Situation eingetreten ist, ist die oben genannte Reform die Option der Wahl: sie erhält die Schlagkräftigkeit, die Stärke der Strukturen und entzieht der oben genannten Krise der Unteren die Grundlage. Der Weg zu einer Reform kann über den oben erwähnten Kompromiss führen, in dem die Betroffenen an den (Veränderungs-)Prozessen mitgestaltend beteiligt werden. Im kleinen, von der Größe einer Gruppe in einer Abteilung nennt man dass tailoristische Gruppenarbeit, im größeren, in Change-Projekten heist das Schlagwort "Betroffene zu Beteiligten machen".

Literaturquellen für diesses Essay:

  1. Georg Klaus und Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, VEB Bibliograhpisches Institut, Leipzig 1969, 6 überarbeitete Auflage
    Georg Klaus und Manfred Buhr (Hersg.), Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Rowohlt, Hamburg 1972
  2. Lenin, Krach der II Internationale, Zeitschrift Kommunist, Rußland 1915
  3. Alfred Kieser und Peter Walgenbach, Organisation, Schäffer-Poeschel, Stuttgart 2003